Interview

Abschied von zwei Vollblutpädagoginnen

Andrea Braun und Birgit Wagner sind Pädagoginnen aus Passion. Sie kennen sich durch die Arbeit und aus gemeinsamen Projekten der Kinder- und Jugendhilfen der Diakonie Michaelshoven. Jetzt gehen beide in den Ruhestand. Ein Gespräch über Freiheit, spannenden Begegnungen und warum man seinem Herzen folgen sollte.

Das sind jetzt die letzten Tage in der Diakonie Michaelshoven. Wie fühlen sie sich?

Frau Wagner: Ich habe alles abgegeben, mein Handy, meinen Laptop… und das ist schon ein komisches Gefühl. Aber es ist auch ein Gefühl der Freiheit.

Frau Braun: Ja, für mich auch.

Haben Sie schon Pläne für den Ruhestand?

Frau Wagner: Ich habe 2014 bis 2019 Fotografie studiert und mache Kunstfotografie. Durch die Pandemie hatte ich wenig Zeit dafür und möchte mich intensiver wieder damit auseinandersetzen und mit meinem Mann gemeinsam auch wieder an Fotoausstellungen teilnehmen. Wir werden auch gemeinsam weiterhin Fotokurse für Kinder und Jugendliche anbieten, unter den Teilnehmendensind auch geflüchtete Kinder. Das haben wir bisher für einen evangelischen Träger in Siegburg organisiert und es hat uns viel Spaß gemacht.

Frau Braun: Ich habe viele große, mittlere und kleine Projekte, die auf mich warten. Zuallererst werde ich nicht, wie so viele die in Rente gehen, in den Urlaub fahren. Ich freue mich schon darauf, dass zu tun, worauf ich Lust habe. Frei von allen terminlichen Zwängen ausschlafen, gemütlich frühstücken, notgedrungen etwas im Haushalt machen, ausmisten, renovieren… und dann viele Kleinigkeiten, wie nach Hamburg fahren, zum Rock am Ring und weitere Ausflüge, die ich mir immer vorgenommen habe. Außerdem möchte ich mir einen Jugendtraum verwirklichen und den Motorradführerschein angehen, wenn mein Knie es wieder zulässt. Vielleicht fange ich auch ein Studium an, wie Geologie oder Archäologie.

Langweilig wird es Ihnen also nicht. Sie haben hier in Michaelshoven auch sehr viel erlebt. Wenn sie zurückblicken, was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Frau Wagner: Was mir ganz spontan einfällt, war eine Veranstaltung im Jahre 1998, die ich mit vorbereitet habe. Da wurden alle Bereiche der Diakonie Michaelshoven übergreifend ins Kölner TÜV-Gebäude eingeladen und es kamen hunderte von Mitarbeitenden zusammen. Ziel war es, dass wir uns und unsere Arbeit vorstellen, um sich gegenseitig kennenzulernen und auch zu vernetzen, um gegebenenfalls zusammenzuarbeiten. Wir haben Einblicke in die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen erhalten, und da habe ich bspw. erstmalig was vom Haus Segenborn erfahren, das ich bis dahin nicht kannte. Ich war sehr erstaunt, was wir alles haben und ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Das war damals ein Novum über den Tellerrand der eigenen Einrichtung und auch Geschäftsbereichs zu blicken. Das fand ich großartig.

Frau Braun: Das Herausragende für mich ist die Begegnung mit unfassbar spannenden und interessanten Menschen. Gerade im Bereich der Projekt- und Erziehungsstellen sind mir Leute begegnet, die mir ohne diesen Job niemals über den Weg gelaufen wären. Oder auch die Mitarbeitenden in den Wohngruppen, wo unglaublich tolle Menschen die Arbeit dort leisten. Außerdem hatte ich in meiner Leitungsfunktion viel Gestaltungsspielraum. Je mehr ich das Unternehmen kennenlernte, desto mehr konnte ich auch mein Netzwerk ausbauen und wusste, wen ich zu welcher Idee ansprechen kann. Das Vernetzen fand ich innerhalb der Diakonie Michaelshoven sehr bemerkenswert. Wir konnten auch immer etwas Neues auf den Weg bringen, seien es alleine die verschiedenen Kompetenzbereiche. Aktuell werden wir bestimmt schon 15 Kompetenzbereiche haben, bei denen Menschen mit unterschiedlichen Funktionen und Jobs für ein Thema gemeinsam an einem Tisch sitzen. Das ist schon einer unserer großen Stärken.

Wenn sie in die Zukunft blicken, was glauben Sie, vor welchen Herausforderungen stehen die Kinder- und Jugendhilfen?

Frau Braun: Also die Herausforderung, die uns seit Jahren begleitet ist das Thema Personal. Und ich befürchte, das wird sich in den nächsten Jahren nicht ändern. Wir müssen uns von herkömmlichen Wegen verabschieden und weg vom Standard. Es gibt eine Reihe an hoch engagierten jungen Fachkräften, aber die müssen wir noch davon überzeugen, dass sie bei uns arbeiten wollen. Wir müssen vor allem in den ersten Monaten verstärkt in neue Mitarbeitende investieren, sie einarbeiten und fachlich weiterbilden. Sie brauchen Fortbildungen, damit sie fachlich fit sind, wie bspw. in Themen wie Qualitätsmanagement oder Deeskalation.

Frau Wagner:  Im Ambulanten Bereich hat sich viel verändert. Bspw. hatte man 1991 mit einer Vollzeitstelle drei Jugendliche betreut und wenn überhaupt einen vierten Jugendlichen dazu genommen. Heute ist es so, dass man mit einer Vollzeitstelle im ambulanten Bereich bis zu 15 Fälle betreut. Das hat sich sukzessive so verändert, da die Refinanzierung für die Stunden, die man für die Betreuung junger Menschen bekommen hat, immer knapper geworden ist. Und das bedeutet, dass man für die Betreuung der einzelnen jungen Menschen nur noch zwei bis drei Stunden hat. Das erfordert ein wahnsinniges Organisationstalent, um sich eine Struktur zu schaffen und natürlich auch die Dokumentation möglichst reibungslos zu machen, die notwendig ist.

Meine Befürchtung ist, dass die zeitlichen Ressourcen immer weniger werden und die Tendenz dahingehend sich entwickelt, dass nur noch vier Fachleistungsstunden für Familien anstehen, anstatt sechs. Der Mensch und die Familien werden nicht mehr als Ganzes gesehen, sondern nur noch in Teilbereichen, wo zielorientiert gearbeitet wird. Das hat zur Folge, dass viele Familien immer wieder kommen und sich ein Drehtüreffekt entwickelt. Es wäre wichtig, dass man sich an das Tempo der Familie anpassen kann, wo man den Menschen als Ganzes betrachtet und die Entwicklung je nach Bedarf begleiten kann. Es wird immer zielgerichteter und schneller. Für die Kolleginnen und Kollegen im ambulanten Bereich ist das eine große Herausforderung.

Frau Braun: Im stationären Bereich ist es nicht anders. Die Jugendämter sind zunehmend der Auffassung, dass stationäre Jugendhilfen sowas wie ein Reparaturbetrieb sind. Man schickt ein Kind für ein Jahr zu uns und wir machen es dann wieder „gesund“ und es „funktioniert“ wieder. Das ist natürlich nicht so. Menschen brauchen ihre Zeit zur Entwicklung.

Was wir auch nicht vergessen dürfen, dass die Menschen in den Einrichtungen diese Arbeit leisten und nicht wir als Führungskräfte. Unsere Aufgabe als Diakonie Michaelshoven ist es, den Mitarbeitenden die Rahmenbedingungen für ein möglichst reibungsloses Arbeiten zu schaffen und zu garantieren. Denn die zeitlichen Ressourcen werden immer knapper und die Mitarbeitenden sollten sich daher weitestgehend nur auf die pädagogische Arbeit und Betreuung konzentrieren. Dafür müssen wir sie in anderen Bereichen entlasten. Ich verstehe auch, dass wir die Wirtschaftlichkeit im Blick halten müssen, aber sie darf die Qualität der Arbeit nicht vermindern, weil es uns um die von uns betreuten Menschen geht und deren Perspektiven. Wir müssen also in der Zukunft schauen, die Systeme rund um die Angebote so zu stabilisieren, dass sie für Mitarbeitende nicht noch eine weitere Belastung darstellen.   

Frau Wagner: Dem schließe ich mich vollkommen an.

Was wollen Sie den Mitarbeitenden zum Abschluss mit auf den Weg geben?

Frau Wagner: Da fällt mir mein Leitspruch ein: Denkt unfrisiert und bleibt kritisch! Ich finde es außerdem wichtig, dass man sich auf das Kleine besinnt, also auf das eigene Team und die eigenen Fälle. Die spannenden und interessanten Menschen, wie es Andrea auch beschrieben hat, geben einem bei der Arbeit sehr viel Stärke. Die Kollegialität im Team ist immens wichtig. Aber auch die Selbstwirksamkeit. Wenn man sich darauf beruft, kann man wirklich sagen, man hat einen tollen Job hier und kann lange durchhalten und das meine ich im Positiven.

Frau Braun: Eine Zaubermethode ist es, sich gut zu überlegen, wo es sich lohnt Kräfte einzusetzen und zu kämpfen. Und wo lohnt es sich nicht, weil es verschwendete Energie ist. Das habe ich in den ganzen Arbeitsjahren für mich so herausgefunden und kann es nur jedem empfehlen darüber nachzudenken. Es ist oft sinnvoller, die Zeit in die uns anvertrauten Menschen zu investieren. Und bei dem Punkt der Kollegialität bin ich bei Dir, Birgit. Es ist gut, gemeinsam im Team und mit den Kolleginnen und Kollegen zu überlegen, wie man die Arbeit bewerkstelligen kann. Außerdem sollte man sich die Frage stellen, wo man kreativ sein kann, um Lösungen zu finden. Und wo es sich lohnt, auch mal ein Risiko einzugehen? Und zum Schluss möchte ich sagen, dass es immer wichtig bleibt, die Arbeit mit Enthusiasmus und Leidenschaft zu sehen. Also folge deinem Herzen.

Wollen Sie wirklich in den Ruhestand gehen?

Frau Wagner: Ja.

Frau Braun: Oh ja.

(Lachen)

 

Der Werdegang

Andrea Braun begann am 1.1.2002 in der damaligen Kinder-/Jugend- und Behindertenhilfe. Sie hat mit einer halben Stelle als Fachbereichsleitung für Erziehungs- und Projektstellen angefangen und den Bereich aufgebaut. 2006 übernahm sie zusätzlich drei Wohngruppen und die Mobile Betreuung. 2015 übergab sie die Erziehungsstellen und die Mobile Betreuung, da sie als Bereichsleitung insgesamt sieben Wohngruppen verantwortete. Zusätzlich war Andrea Braun seit 2003 Mitglied im Audit-Team und ist in die Steuerungsgruppe Qualitätsmanagement gewechselt. Andrea Braun hat die Kompetenzbereiche „Partizipation“, „Sexualpädagogik“ und „Sicherheit und Gefährdung“ gegründet. Den Kompetenzbereich „Inklusion“ übernahm sie vom damaligen Geschäftsführer.

Birgit Wagner hat am 1.12.1987 in der Wohngruppe Hummeln in Stephansheide angefangen. Nach vier Jahre ging sie zur Mädchengruppe WG Libellen (heutige WG Flora), und wechselte dann in die mobile Betreuung und war in der Verselbstständigung tätig. Sie hat zusätzlich Freizeitmaßnahmen für Mädchenwohngruppen in Michaelshoven angeboten. 2003 übernahm Birgit Wagner die Teamleitung der Mobilen Betreuung und 2010 zusätzlich die Teamleitung der Flexbüros.. Seit 2018 war sie Regionalleitung der Ambulanten Hilfen Köln. Sie hat unter anderem das übergreifende Projekt „Ferry4You“ im BFW Köln von 2007 bis 2010 mitentwickelt und dabei die Sozialberatung übernommen. Außerdem war sie seit 2012 Mitglied im Kompetenzbereich „Kinderschutz“ und hat ihn bis 2018 geleitet.

 

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