Interview

Bewusste Erziehung - Mit Achtsamkeit zu mehr Zufriedenheit für Kind und Eltern

Die Kindererziehung hatte in früheren Generationen viel mit Autorität und Macht zu tun. Das ändert sich zum Glück, stellt Erzieherin Linda Binias fest. „Die neuen Generationen, berücksichtigen das Mitspracherecht und die Gefühlswelt von Kindern und auch die eigene“, sagt die 29-Jährige. Aber nicht immer ist man frei von den eigenen Kindheitserfahrungen, der Meinung anderer und auch von Stressfaktoren. Als Erziehungs- und Entwicklungscoach steht sie Eltern zur Seite, um ihnen Wege für eine bewusste Erziehung (Conscious Parenting) aufzuzeigen und dabei auch das Verhalten der Eltern in herausfordernden Situationen zu analysieren. Denn oft lassen sich daraus Schlüsse ziehen, die perspektivisch zur Entlastung der Eltern führen.

Linda, als Erziehungs- und Entwicklungscoach triffst du auf verschiedene Themen und Herausforderungen. Warum kommen die Eltern zu dir?

Es sind Eltern, die sich ein harmonischeres Familienleben wünschen und mehr Verständnis für ihr Kind aufbringen möchten. Sie wollen besser verstehen, wie Kinder denken und sich verhalten. Also manchmal sind es gar nicht die großen Schwierigkeiten, sondern nur kleine Mikroprozesse, die verändert werden müssen und das auf der Grundlage von Verständnis.

Und dann gibt es die Familien, die vor Herausforderungen stehen, wie beispielsweise eine Trennung, ein Umzug, der Wechsel von der Kita zur Schule oder von der Tagesmutter zur Kita. Es sind also bestimmte Lebensabschnitte, die Kinder durchleben. Die Eltern wollen diese Veränderungen professionell begleiten lassen oder sich bei mir Hilfe holen, damit das Kind kein Trauma erlebt und die Familien gemeinsam lernen, mit der besonderen Situation gut umgehen.

Was fällt dir bei den Beratungen mit den Familien auf?

Es ist total spannend, dass in den meisten Fällen die Eltern mit Themen der Kinder zu mir kommen, aber sich dann im Gespräch herausstellt, dass es eigentlich Themen der Eltern sind. Das war beispielsweise der Fall, als eine Mutter erzählte, sie käme an ihr Kind schlecht dran, wenn es wütend sei, weil es sich in solchen Situationen zurückziehe. Dabei reguliert sich das Kind in so einer Situation selbst und das ist eine tolle Eigenschaft. Denn es ist wichtig, dem Kind den Raum für seine Gefühle zu geben, auch wenn es sich um Wut oder auch Trauer handelt. Viele Eltern müssen lernen, so eine Situation auch mal zuzulassen und dies auszuhalten. Erziehungsberechtigte müssen lernen auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen und nicht nach der eigenen Vorstellung zu reagieren.

Bei deinen Beratungen geht es also auch um das Verhalten der Erwachsenen?

Ich bin ein Fan der bewussten Erziehung, also dem Conscious Parenting und das ist auch mein Beratungsansatz. Dabei geht es darum, erst bei sich selbst schauen, welche Knöpfe das Kind hier gerade drückt und wie man selbst darauf reagiert. Wenn man das für sich herausgefunden hat, dann kann man daran arbeiten. Ich kann noch so bedürfnisorientiert meinem Kind gegenüber sein, wenn ich mir selber nicht über meine Gefühle bewusst bin und weiß, was ein bestimmtes Verhalten bei mir auslöst.

Also bedeutet bewusste Erziehung sich selbst zu beobachten. Das ist ja dann auch ein Spiegel, den man sich vorhält. Wie finden das die Eltern?

Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich. Manchmal kommt die Rückmeldung, dass man sowas noch nie aus einem anderen Blickwinkel gesehen hat. Genau da setze ich an, nämlich eine neue Perspektive schaffen. Wer zu meiner Beratung kommt, der hat im Grunde schon die erste bewusste Entscheidung getroffen. Und wer diesen Schritt geht, der muss auch mal aus seiner Komfortzone raus und zulassen, dass ich mir die Gesamtsituation anschaue und dabei das Verhalten der Eltern analysiere. Dann sage ich auch mal Dinge, die die beste Freundin vielleicht nicht sagen würde. Wir alle wissen, dass Kritik in einer Beziehung immer schwierig ist. Bei meinen Beratungen trete ich den Elternmit einer freundlichen Distanz entgegen und schätze die Situation fachlich und objektiv ein. Aber bisher waren mir alle Kundinnen und Kunden sehr dankbar über diese Form des Feedbacks. Dafür kommen sie ja auch zu mir.

Das bedeutet also, dass du bei deinen Beratungen auch mal Raum für offene und ehrliche Worte gibst?

Genau! In den meisten Fällen berate ich Mutter und Vater gemeinsam und stelle fest, dass wenn ein Elternteil auf eine Frage antwortet, der andere von dieser Aussage noch nichts wusste. Es geht also auch darum, sich mal die Zeit als Eltern zu nehmen, die oft im Alltag nicht gegeben ist. Und da kann dann ohne Störungen und Zeitdruck auch ein Austausch untereinander stattfinden.

Wer Antworten auf Erziehungsfragen sucht, bekommt unzählige Meinungen, Tipps und Infos? Wie blickt man da überhaupt noch durch?

Generell fällt mir auf, dass wir es in ganz vielen Themen verlernt haben auf unser Bauchgefühl zu hören und wir eigentlich instinktiv Entscheidungen so treffen würden, wie es für die Familie richtig ist. Wenn wir dann Meinungen in den Social Media oder Büchern lesen, dann verunsichert uns das erst mal. Ich selbst habe Bücher gelesen, bei denen sich mir als Erzieherin die Nackenhaare hochstellen. Wie beispielsweise bei der Empfehlung, Babys und Kleinkinder auch mal schreien zu lassen. Gerade die Kleinsten sind auf uns Erwachsene angewiesen und können sich nicht ihre Bedürfnisse selbst erfüllen. Sie brauchen Liebe und körperliche Zuneigung, um sich richtig zu entwickeln. Im Übrigen provozieren Kinder auch keine Erwachsene. Sie signalisieren damit immer, dass sie etwas brauchen.

Erziehungsglück Linda Binias
Erziehungsglück Linda Binias

Du hast ja gesagt, dass sich die Erziehung in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Was hat sich geändert?

Man merkt einen Umschwung in den Generationen, und so werden die Erziehungsmethoden der älteren Generationen abgelöst. Es gibt Menschen, die natürlich auch sagen, die eigene Erziehung hat ihnen nicht geschadet, und es gibt die, die es heute auf jeden Fall anders machen wollen. Ein großes Thema bei meinen Beratungen ist beispielsweise, ab wann ein Kind im eigenen Bett schlafen sollte. Und da empfehle ich, dass sich jeder die Frage stellen sollte, was die eigene Vorstellung davon ist. Möchtest Du, dass das Kind im eigenen Bett schläft oder ist es die Meinung der anderen? Wenn ein Mensch mit Kindern im Bett keinen Schlaf mehr findet, dann schauen wir gemeinsam, welche Lösungsansätze es gibt, um das Kind an das eigene Bett Schritt für Schritt zu gewöhnen. Es gibt natürlich auch die Eltern, für die es absolut in Ordnung ist, dass die Kinder weiterhin mit im Bett schlafen und dann ist das auch in Ordnung. Viel wichtiger ist es herauszufinden, was die Vorstellung eines Zusammenlebens in der Familie ist.

Du sagst ja auch, dass die frühere Erziehung viel mit Macht zu tun hatte?

Früher hatte Erziehung viel mit Macht zu tun. Was Erwachsene sagten, war gesetzt, und die Kinder hatten keine Stimme. Bedürfnisse wurden dabei übersehen. Heute gehen viele Menschen zur Therapie, weil sie Traumata aus der Kindheit bewältigen müssen. Die Wissenschaft ist jetzt zum Glück viel weiter, auch neurologisch wurde viel erforscht.  Die nächsten Generationen wollen die Bedürfnisse der Kinder sehen und auf diese eingehen. Der Fokus wird auf Achtsamkeit gelegt. Achtsamkeit haben wir eigentlich von Geburt an, wir haben sie uns aber im Laufe unseres Lebens abtrainiert. Das merken Erwachsene oft erst, wenn sie ein Burnout erleiden und vorher nicht mehr spüren, dass sie überlastet sind.

Wie sieht es denn bei negativen Gefühlen bei Kindern aus. Wie reagiere ich darauf?

Es ist wichtig, Kindern nicht die Achtsamkeit abzutrainieren, sondern ihre Gefühle zu stärken, sie über ihre Gefühle sprechen zu lassen und sie so wahrnehmen zu dürfen. Es ist auch wichtig, zu akzeptieren, dass nicht immer alles gut ist, dass alles auch mal doof sein darf und man auch traurig sein darf. Ich habe bei mir selbst gemerkt, dass ich automatisierte Mechanismen habe. Als ein Kind in der Kita alleine in der Ecke stand und traurig war, da ein anderes erkranktes Kind abgeholt wurde, bot ich ihm an, es zum Trost zu umarmen. Aber das Kind sagte, es wolle alleine sein. Und dieses Annehmen und dem Kind nicht aufzuzwingen, was einem selbst guttun würde, ist wichtig. Als Erzieherin sage ich heute einem Kind: Ich verstehe, dass du traurig bist und ich unterstütze dich, wenn du mich brauchst.

Das bedeutet, dass wir die Meinung eines Kindes ernst nehmen müssen. Sonst üben wir Macht über ihn aus?

Auf jeden Fall! Partizipation und Kinderrechte sind ein Herzensthema von mir, dazu habe ich bei der Akademie Michaelshoven eine Fortbildung gemacht. Es ist spannend und auch erschreckend, wie viel Macht wir gegenüber Kindern haben. Und der Begriff „Macht“ darf nicht nur negativ gesehen werden, aber er kann ausgenutzt werden, um ein bestimmtes Verhalten bei Kindern zu erzwingen. Über Macht haben wir auch mit dem Team in unserem Kita-Alltag gesprochen. Beispielsweise bestellen wir jetzt Spielsachen erst, nachdem wir die Kinder gefragt haben, was sie gerne hätten.

Und so ist es dann auch in der Familie wichtig, dass man die Meinung der Kinder anhört. Es gibt Bereiche und Altersgruppen, wo es eine höhere Verantwortung und Fürsorgepflicht gibt. Aber im Alter ab 3 bis 5 Jahren wollen Kinder autonom leben und ihre Erfahrungen machen. Hier ein Beispiel: wenn ein Kind keine Jacke anziehen will, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder gibt es ein großes Theater vor dem Rausgehen oder das Kind entscheidet, ohne Jacke rauszugehen. Dadurch geben wir dem Kind den nötigen Raum um selber zu lernen, bei welchen Temperaturen es friert und seinen Körper wahrzunehmen. Ist es zu kalt, wird es die Jacke annehmen, die wir vorsorglich mitgenommen haben und ohne ein „Hättest du direkt auf mich gehört.“ zur Verfügung stellen. Wir geben dem Kind damit die Möglichkeit zur Selbstwahrnehmung - diese ist für ein autonomes Lernen unabdingbar.

Warum ist es wichtig die Autonomie der Kinder zuzulassen?

Das wird uns in der Kita gerade beim Sprung in die Schule immer wieder bewusst. Wenn das Kind noch in der Kita ist, wird noch ganz viel von den Eltern übernommen und gemacht, weil alles schnell gehen soll. Und wenn die Kinder in die Schule kommen, sind sie vermeintlich groß und sollen alles selbst können. Das ist aber ein Prozess, der begleitet werden muss, und sicherlich viele starke Nerven und Geduld braucht. Aber es lohnt sich, Kindern etwas zuzutrauen, sie zu begleiten anstatt sie zu bevormunden.  

Es sind ja dann auch verschiedene Bedürfnisse die aufeinandertreffen: Wie macht man das?

Ich habe letztens in einem Buch das Wort „Reaktionsflexibilität“ gelesen, das heißt, Kinder mit ihren Bedürfnissen in den eigenen Alltag einzubauen. Kinder funktionieren oft nicht nach Plan und haben andere Bedürfnisse. Bei der Abholung aus der Kita sollte man immer mehr Zeit einplanen und wichtige Anschlusstermine, wie bspw. einen Arzttermin, mit genug Puffer einplanen. Denn die Kinder waren in der Kita in einem Gruppengefüge, sie kooperieren ganz viel miteinander und es orientieren sich den ganzen Tag an Strukturen und Regeln, wie das gemeinsame Essen oder Schlafen. Wenn sie dann von der Kita abgeholt werden, ist erst mal Schluss mit dem Kooperieren. Das dann auch mal das Schuhe anziehen überfordernd wird und länger dauert, ist nachvollziehbar. Es ist also unsere Aufgabe als Erwachsene, da genug Zeit mitzubringen.

Erziehungsglück Linda Binias

Wie kann man heute dem Kind, der Gesellschaft und dann noch der Vorstellung der eigenen Familie gerecht werden?

Wir müssen lernen, mehr auf unser Bauchgefühl zu hören und Kritik vom Umfeld aushalten können. Besonders bei Kindern mit z.B. emotional herausforderndem Verhalten.
Wenn ein Kind beispielsweise eine Impulskontrollstörung hat, wird auf dem Spielplatz schnell gesagt: „Das ist ja ein Bombenleger, die haben ihr Kind gar nicht im Griff.“ In solchen Situationen ist es wichtig, als Elternteil zu seinem Kind zu stehen und zu akzeptieren, dass eine Impulskontrollstörung wie jede andere Eigenschaft auch, zu ihm gehört. Da kommt es dann häufig zu Konfrontationen, insbesondere im familiären Umkreis. Wir alle kennen die Situationen noch, bei denen Kinder sich am Tisch „benehmen“ sollten und bestimmte Dinge schon können müssten. Jedes Kind hat aber sein eigenes Tempo und entwickelt sich dementsprechend. Unsere Aufgabe als Eltern ist es, den Kindern die Sicherheit zu geben, damit sie sich gesund entwickeln und entfalten können.

Aber es ist auch einfach viel Verantwortung, die man heutzutage hat. Früher sagte man, ein Kind wird von einem Dorf großgezogen und nicht von einer oder zwei Personen. Und dieses Netzwerk ist immens wichtig: Nachbarn, Omas, Opas… Aber das haben leider nicht alle. Und das kann auch nicht jeder haben. Und wenn die Verantwortung nicht verteilt ist, dann ist das eine hohe Belastung.

Kontakt zu Linda Binias

Linda Binias ist gelernte Erzieherin und Leiterin der Kita Sterntaler in Hürth. Nach ihrer Weiterbildung zum Erziehungs- und Entwicklungscoach bietet sie Beratungen für Familien, Eltern und Alleinerziehende an. Ihre Erziehungsthemen veröffentlicht sie über Instagram. Sie vertritt das Conscious Parenting, also bewusste Erziehung, bei der es um Achtsamkeit geht.

Beratungsangebot
Du kannst ihr eine (Sprach-) Nachricht über Instagram erziehungs.glueck oder eine  E-Mail senden und dabei deine aktuelle Situation oder Herausforderung schildern.  Nach einem Kennenlerngespräch wird gemeinsam festgehalten, welche Ziele erreicht werden sollen. Die Beratungen können in zentralen Räumlichkeiten in Köln (3 Minuten vom HBF) oder online stattfinden.

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